Kontingenzbewusstsein, Zivilgesellschaft und die Verteidigung der Demokratie. Philosophische Debatten zur politischen Legitimation
Moderne demokratische Legitimationsverfahren sind nicht nur ein (glückliches) Ergebnis kontingenter historischer Bedingungen. Sie sind auch eine kulturelle Errungenschaft moderner pluralistischer Gesellschaften, die es im idealen Fall ermöglicht, divergierende Vorstellungen gerechter Herrschaft, von Selbstregierung und Ansprüchen auf Partizipation friedlich zu vereinbaren. Demokratische Verfahren, so lautet daher die These, haben eine immenses integratives Potential, ohne dass ihre Akteure ihre jeweiligen Ansprüche auf kulturelle Selbstbestimmung aufgeben müssen, vorausgesetzt diese stehen nicht im krassen Widerspruch zum normativen common sense.
Über die These, dass eine schlechte Demokratie besser sei als keine Demokratie, scheint unter Vertretern aktueller westlicher Strömungen politischer Philosophie Konsens zu herrschen. Allerdings erstreckt sich dieser Konsens nicht auf die theoretische Begründbarkeit demokratischer Herrschaft. Es gibt also Einhelligkeit über die normative Überzeugung, die Demokratie sei verteidigungswürdig, wobei es über die Fundierung dieser normativen Überzeugung widersprüchliche Ansichten gibt.
In einem ersten Schritt des geplanten Forschungsvorhabens soll dieser Konsens anhand einer vergleichenden Analyse dreier unterschiedlicher Richtungen politischer Philosophie erläutert werden und die jeweiligen Möglichkeiten, Grenzen, Bedingungen und Begründung der demokratischen Praxis beschrieben werden. Ausgewählte Vertreter des Liberalismus (u. a. Rawls, Rorty), der deliberativen Demokratie- und Diskurs-Theorie (u. a. Honneth, Benhabib) und des Kommunitarismus (u. a. Taylor) sind dabei im Fokus der Analyse, wobei diese Auflistung und die Reihe der jeweiligen Vertreter zu diesem Zeitpunkt noch keine geschlossene Gesellschaft darstellt.
In einem zweiten Schritt soll der Zusammenhang von Kontingenzbewusstsein und Demokratie untersucht werden. Dabei sollen Gründe für die These erarbeitet werden, dass es sich hier um einen konstitutiven Zusammenhang handelt. Hintergrund ist die Diagnose einer Krise der modernen westlichen Demokratie, die nicht zuletzt auf die Arbeiten des französischen Philosophen Jacques Ranciere zurückgeht. Die Diagnosen einer Krise der Demokratie im Kontext sowohl der Globalisierung von Politikpraxen als auch der Regulierungsdefizite des modernen Wohlfahrtsstaates und dessen neoliberale Transformation machen ein erneutes Hinterfragen philosophischer Debatten der politischen Legitimation in Bezug auf ihre integrativen Potentiale notwendig. Diese Krise hat einen ihrer Gründe in einem mangelnden Kontingenzbewusstsein der Akteure demokratischer Herrschaftssysteme. Das Unbestimmbare zwischen subjektiver, man kann auch sagen liberaler Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Assoziation, welche die Herausforderung von Bemühungen um Integration darstellt, muss stets neu politisch verhandelt werden und kann keinem dauerhaften Konsens unterworfen werden, ohne das Demokratie zur „Postdemokratie“ und Politik zur „Nicht-Politik“ wird. Die rancieresche Demokratietheorie impliziert daher ein kritisches Potential, welches auf antidemokratische Tendenzen in Form der Neuaufschließung der politischen Diskussion reaktiviert werden kann. Kontingenzbewusstsein wird selbst ein integraler Bestandteil von Demokratie.
Ein weiterer maßgeblicher Theoretiker der Kontingenz ist Richard Rorty. Auf ihn geht die pragmatische Einsicht zurück, dass es sich bei der Erfolgsgeschichte der Demokratie um einen historischen, wenn auch glücklichen, Zufall handelt. Jeder transzendentalpragmatische oder idealisierende Fundierungsversuch dieser und jeder anderen sozialen Praxis sei, so Rorty, zum Scheitern verurteilt. Allerdings scheint hier das Verhältnis von Demokratie und Kontingenz ein nur äußerliches zu sein. Stellt sich bei Ranciere die Demokratie als die Herrschaftsform dar, die einem allgemeinen Kontingenzbewusstsein angemessen zu sein scheint, so würde Rorty diese These als theoretisch nicht begründbar zurückweisen. Damit scheint es Rorty aber auch an jedem kritischen Potential zur Verteidigung der Demokratie zu mangeln. Diese Vermutung soll anhand einer näheren Analyse des Verhältnisses von Kontingenz und Demokratie bei Ranciere und Rorty untersucht werden.
In einem dritten und letzten Schritt soll die an die vorhergehenden Überlegungen anschließende Frage nach der Bedeutung und Rolle einer funktionierenden, autonomen politischen Gesellschaft für das Gelingen demokratischer Herrschaft in den Fokus rücken. Zu diesem Zweck soll die weitgehend französisch-deutsche Debatte um die Zivilgesellschaft (Lefort, Gauchet, Castoriadis, Dubiel, Rödel u. a.) nach ihrer Anschlussfähigkeit an die Überlegungen zu Demokratie und Kontingenz hinterfragt werden. Die Frage ist dabei, ob das Konzept der Zivilgesellschaft tauglich ist, den Wertestreit über Normen als befreiendes Element von Totalitarismen und zugleich als Regulativ und Kritikreservoir bestehender liberaler Demokratien theoretisch einzuholen.
- Exzellenzcluster
Period: | 01.09.2009 – 31.12.2012 |