Jugendkriminalität und (straf-)rechtliche Sozialkontrolle

Beschreibung

Die gegenwärtige Diskussion um steigende (Jugend-)Kriminalität dramatisiert durch Verwendung nicht hinreichend differenzierter Daten der amtlichen Kriminal- und Rechtspflegestatistiken. Aussagen zur Entwicklung der Jugendkriminalität, die sich auf Daten stützen, in denen auch nichtdeutsche Tatverdächtige enthalten sind, sind zum einen wegen einer in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Zahl von nicht zur Wohnbevölkerung gemeldeten Personen nicht valide. Zum anderen finden die seit 1989 zu beobachtenden deutlichen Anstiege der Tatverdächtigenzahlen (bezogen auf jeweils 100.000 altersgleiche Personen der Wohnbevölkerung) der Polizeilichen Kriminalstatistik bei deutschen Jugendlichen und Heranwachsenden keinerlei Entsprechung bei den Verurteiltenzahlen. Beide Zahlenreihen entwickeln sich in einem bis dahin unbekannten Maße auseinander. Dies ist - jedenfalls in diesem Ausmaß - nicht durch vermehrte Verfahrenseinstellungen erklärbar. Angesichts der gegenwärtigen Forschungs- und Datenlage erscheint es einseitig, voreilig und gefährlich, nur die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik kriminalpolitischen Diskussionen und weitreichenden Entscheidungen zugrunde zu legen.Die Diskussionen leidet ferner unter einer folgenreichen Blickverengung: Die Konzentration auf Jugendkriminalität verstellt den Blick auf die wirklich gravierenden Rechtsgüterverletzungen Erwachsener und auf junge Menschen als Opfer von Straftaten (auch durch Erwachsene). Diese Konzentration der Diskussion auf Jugendkriminalität ist nur erklärbar durch die überholte Alltagstheorie, wonach Jugendkriminalität Einstieg in schwere oder wiederholte Kriminalität sei. Die jugendkriminologische Forschung der letzten Jahre hat demgegenüber die "Normalität" der Jugendkriminalität und die kriminalpolitische "Vernünftigkeit" des deutschen Jugendstrafrechts belegt. Es gibt empirisch keinen Anlass, an der Richtigkeit der bisherigen Befunde jugendkriminologischer Forschung zu zweifeln, insbesondere daran nicht, dass es richtig ist, davon auszugehen, dassJugendkriminalität im Regelfall "Episode" bleibt und weder Einstieg in intensive noch in schwere Deliktsbegehung darstellt,informelle Sanktionen Vorrang haben vor formellen Sanktionen, dass helfende, stützende und betreuende Sanktionen Vorrang haben vor solchen ahndender Art, dass insbesondere nichts dafür spricht, aus (vermeintlich) "erzieherischen" Gründen "verschärft" zu reagieren. Spezialpräventive Effekte sind hierdurch nicht zu erzielen, eher ist das Gegenteil der Fall.Das Jugendstrafrecht in seiner gegenwärtigen Fassung hat sich im Wesentlichen bewährt. Das rechtliche Instrumentarium ist flexibel genug, um die präventiv richtige und angemessene Reaktion zu finden, um sowohl berechtigten Belangen von Opfern als auch - in Fällen schweren Unrechts und schwerer Schuld - gesellschaftlichen Ahndungsbedürfnissen und dem Schutz der Allgemeinheit Rechnung tragen zu können. Die Analyse der Sanktionierungspraxis der Jugendkriminalrechtspflege ergibt im Übrigen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das gegenwärtig verfügbare Instrumentarium des JGG nicht ausreichend wäre. Die Jugendkriminalrechtspflege hat jedenfalls in den letzten Jahren nicht die Notwendigkeit gesehen, Heranwachsende vermehrt nach allgemeinem Strafrecht zu verurteilen, die Diversionsrate zu senken, weniger Jugendstrafen zur Bewährung auszusetzen, vermehrt auf freiheitsentziehende Sanktionen (unbedingt verhängte Jugendstrafe und Jugendarrest) zurückzugreifen, vermehrt Jugendstrafen mit einer Dauer von mehr als 5 Jahren zu verhängen. Danach zu schließen, hat sich entweder die Qualität der zur Verurteilung anstehenden Jugendkriminalität nicht derart verändert, dass der Praxis eine "härtere Gangart" notwendig zu sein scheint, oder die sach- und fachkundige Praxis der Jugendkriminalrechtspflege ist davon überzeugt, dass zur Lösung der Probleme junger, straffällig gewordener Menschen freiheitsentziehende Sanktionen nicht besser geeignet sind als solche ambulanter Art. (Jugend-)Strafrecht kann soziale Probleme nicht lösen. Prävention hat deshalb Vorrang vor Repression. Die Jugendkriminalrechtspflege sollte freilich nicht nur auf ihre begrenzte Problemlösungskapazität hinweisen, sondern auch ihr Fachwissen in kriminalpräventive Konzepte einbringen. Da Probleme dort am ehesten und besten gelöst werden können, wo sie entstehen, ist die Gemeinde der Ort, wo entsprechende Konzepte mit Aussicht auf (begrenzten) Erfolg ansetzen können.

Institutionen
  • FB Rechtswissenschaft
Publikationen
  Spiess, Gerhard (2010): Jugendkriminalität in Deutschland - zwischen Fakten und Dramatisierung. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde : Bearbeitungsstand: 6/2010

Jugendkriminalität in Deutschland - zwischen Fakten und Dramatisierung. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde : Bearbeitungsstand: 6/2010

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The paper gives an introduction into current knowledge about structure and development of juvenile crime in Germany - Data resources, criminological access and limits to interpretation Effects of changes in reporting, trends in procedural practices and diversion are discussed on the background of findings about dark figure and registered crime. Following the structure of juvenile crime, special regard is given to crimes of violence and crimes against property. Related aspects hereto as age, gender, nationality, repeated or intense delinquency and findings on offender-victim-relations are considerated.

Forschungszusammenhang (Projekte)

  Spiess, Gerhard (2008): Jugendkriminalität in Deutschland - zwischen Fakten und Dramatisierung : Kriminalstatistische und kriminologische Befunde

Jugendkriminalität in Deutschland - zwischen Fakten und Dramatisierung : Kriminalstatistische und kriminologische Befunde

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dc.contributor.author: Spiess, Gerhard

Forschungszusammenhang (Projekte)

  Heinz, Wolfgang (2004): Kriminalität von Deutschen nach Alter und Geschlecht im Spiegel von Polizeilicher Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik. Aktualisierte Neuauflage Konstanz 2004. Stand der Daten: 2002

Kriminalität von Deutschen nach Alter und Geschlecht im Spiegel von Polizeilicher Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik. Aktualisierte Neuauflage Konstanz 2004. Stand der Daten: 2002

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The paper gives an introduction into current state of knowledge about structure and development of registered crime in Germany - data resources and limits to interpretations are discussed. Special regard is given to divergent trends in crime rates according to police statistics as compared to court statistics.

Forschungszusammenhang (Projekte)

  Heinz, Wolfgang (2002): Jugendkriminalität in Deutschland : kriminalstatistische und kriminologische Befunde ; Aktualisierungsstand 9/2002

Jugendkriminalität in Deutschland : kriminalstatistische und kriminologische Befunde ; Aktualisierungsstand 9/2002

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Dargestellt werden Entwicklung, Stand und Struktur der Jugendkriminalität in Deutschland auf der Grundlage amtlicher Statistiken und kriminologischer Untersuchungen. Zunächst werden die Erkenntnismittel vorgestellt und Aussagemöglichkeiten und -grenzen diskutiert. Hierbei geht es zum einen um die Frage eines gestiegenen Anzeigeverhaltens, zum anderen um verfahrensrechtliche Entkriminalisierung durch Diversion.
Die verfügbaren Informationen zur Entwicklung der Kriminalität junger Menschen im Dunkelfeld werden den Hellfelddaten gegenüber gestellt. Unter dem Gesichtspunkt der Struktur der Jugendkriminalität wird - neben der Eigentumskriminalität vor allem auf die Gewaltkriminalität eingegangen. Differenziert wird ferner hinsichtlich der Merkmale Alter, Geschlecht, Nationalität, Mehrfach- und Intensivtäterschaft.

Forschungszusammenhang (Projekte)

Mittelgeber
Name Finanzierungstyp Kategorie Kennziffer
Ausschuss für Forschungsfragen Drittmittel Forschungsförderprogramm 14-7/95
Weitere Informationen
Laufzeit: 01.01.1992 – 31.12.2010