„Orientalismus" und „Okzidentalismus" sind keine diametral entgegengesetzten Blickrichtungen. Unter Bedingungen der sich globalisierenden Moderne sind weder der westliche Blick auf Asien noch der asiatische auf den Westen je für sich autonom und primordial. Westliche Wahrnehmungen asiatischer Gesellschaften sind oft bereits durch die Selbstinterpretationen dieser Gesellschaften unterschwellig beeinflusst. In noch höherem Maße sind asiatische Selbstdeutungen von dem geprägt, was westliche Medien und westliche Wissenschaft an Denkformen und Inhalten vorgeben, was zum Beispiel als Missverständnis von oder Erwartung an asiatische Gesellschaften wahrgenommen wird. Während „der Westen" - eine semantisch sehr instabile Kategorie - sich seit Jahrhunderten maßgeblich in der Distanzbestimmung zu Asien definiert hat, handelt es sich bei asiatischen Auseinandersetzungen mit dem Westen in der Regel um Selbstbehauptungsdiskurse, die auf Impulse von außen reagieren.pEin einzelnes Teilprojekt kann diese Landschaft nicht kartieren. Der hier gewählte Untersuchungsansatz stellt ein einziges Motiv in den Mittelpunkt, das es erlaubt, derlei Spiegelungen und Brechungen im Ost-West-Verhältnis zu erfassen: Prognosen über die Zukunft Asiens, hier speziell Indien (Parallelstudien zu anderen großen asiatischen Ländern wie China oder Indonesien wären leicht anzuschließen). Auf diese Weise wird zugleich die Beziehung zwischen einem historischen Untersuchungsvorhaben und dem außerordentlichen Interesse, das Indien in der Gegenwart weltweit findet, hergestellt.pEs versucht, diese komplizierte Gemengelage wechselseitiger Wahrnehmung durch die Untersuchung eines einzelnen Motivs zu entwirren. Dieses Motiv ist das prognostische Reden über die Zukunft Asiens, hier konkretisiert am Beispiel Indiens. Spekulationen über „the emergence of Asia" wurden für Indonesien zuletzt in den 1990er Jahren, also vor der großen Finanzkrise von 1997, angestellt; im Falle Indiens beherrschen Aufstiegsprophetien die internationale Publizistik des frühen 21. Jahrhunderts. Den wissenschaftlichen Rahmen bietet neuerdings die soziologische These von der Multiplizität der Moderne. Es ist für das Verständnis der heutigen Debatten wichtig zu sehen, dass sie eine lange Vorgeschichte haben. Immer wieder im 20. Jahrhundert wurden unterschiedlich bewertete Voraussagen eines kommenden Aufstiegs asiatischer Länder und Gesellschaften auf der Stufenleiter der internationalen Hierarchie im Westen formuliert und in Asien aufgenommen. Das Projekt soll diesen Vorgang an unterschiedlichen Zeitausschnitten untersuchen. Es soll zugleich die Relativität und Relationalität der Kategorien „Asien" und „Westen", d.h. die komplexe Schichtung gegenseitiger Wahrnehmung und Interpretation, deutlich machen.