Tischsitten, Gesellschaftsspiele und Etikette: Symbolik und Wandel öffentlicher Begrüßungs- und Abschiedsrituale im russischen und (post-)sowjetischen Kulturkontext des 18.-21. Jahrhunderts

Beschreibung

Im vorliegenden Projekt, das als Fortsetzung des Teilprojekts C2 Russische Tischsitten konzipiert ist, soll die Struktur und symbolische Funktion russischer Begrüßungs- und Abschiedsrituale aus einer historisch-vergleichenden Perspektive untersucht werden. Das Ziel der Forschung bezieht sich hauptsächlich auf folgende Fragestellungen:

Wie vermag eine Gesellschaft (insbesondere soziale Eliten) ihre kommunikativen Bedürfnisse in Ritualen der Kommunikationseröffnung bzw. des Kommunikationsschließens zu realisieren?

Wie konstituiert sich die Beziehung zwischen einer bestimmten Gesellschaftsstruktur (Arbeitsteilung, Typ der Herrschaft, private und öffentliche Sphärenteilung, soziale Geschlechterrollen, etc.) und den unterschiedlichen, im Alltag der Oberschichten verfügbaren Kommunikationsstrategien?

Wie unterscheiden sich ritualisierte Verhaltenstechniken - die Verbeugung, das Abnehmen des Hutes, die Umarmung, der Mundkuss, das Händeschütteln - im Hinblick auf ihre Funktion und symbolische Bedeutung in historischen Kulturkontexten West- und Osteuropas?

Welche Wandlungsprozessen sind die den gesellschaftlichen Begrüßungs- und Abschiedsritualen zugrunde liegenden verbalen und nonverbalen Grundmuster (z.B. Körperstellungen, redebegleitende Gesten, Sprachfiguren) unterworfen?

Welche Rolle spielten solche Muster in der interkulturellen Kommunikation (Botschaften, Reisekontakte, Empfänge, Salonbegegnungen), insbesondere im Zusammenhang mit positiven/negativen Selbst- und Fremddarstellungen?

Inwiefern lässt sich die Kontinuität sozialer Normen anhand von traditionsgebundenen Formen der Kommunikation verfolgen?

Welche Rolle spielen die zur Schau gestellten Begrüßungsrituale in fiktionalen Realitätsentwürfen, die mit Hilfe von Medien (Kinochroniken, Fernsehen, Zeitungsberichte) konstruiert werden?

Im Unterschied zu unserem ersten Projekt (1999/2002), in dem insbesondere das Phänomen der Adelsintegration im Zusammenhang mit der Aneignung westlichen Kulturguts in der russischen Hofkultur des 17. - 18. Jahrhunderts problematisiert wurde, bezieht sich der neue Schwerpunkt auf die Evolution und Kontinuität fixierter Verhaltensstereotypen in einem fest umgrenzten Sozial- und Kulturkontext. Der neue Akzent wird des weiteren weniger auf eine statische Abbildung der Oberschichtenintegration im 18. Jh. als vielmehr auf die Dynamik der von einer gesellschaftlichen Gruppe bzw. mehreren gesellschaftlichen Eliten produzierten Zeichen und Normen gelegt. Während das Projekt 1999/2002 sich vorwiegend auf das schriftliche Quellenkorpus stützte, wird nun das Augenmerk auf die sich im 19.-20. Jh. vollziehende Medienausdifferenzierung gerichtet. Die bisher angewandten Methoden der Textinterpretation sollen daher insbesondere unter zeichentheoretischen Aspekten vertieft und modifiziert werden (§3.5.1.).

Gesellschaftliche Begrüßungsrituale unterliegen - so die Ausgangshypothese - einem historischen Wandel, bei dem die ursprüngliche, zeitlich und räumlich festgelegte Beziehung des Bezeichneten zum Bezeichnenden modifiziert wird. So hat sich beispielsweise im west-osteuropäischen Bereich im Laufe des 18. - 19. Jh. der kausale Zusammenhang zwischen der Verbeugungstiefe und Rangmarkierung bei 'vertikal' angelegten Grußritualen aufgelöst. Die dieser Entwicklung eigentümliche Dynamik wird dabei von einer stabilisierend wirkenden Funktion kollektiver Erwartungen, wie sie in jeder Gesellschaft über Symbole vermittelt werden, ausgeglichen. Demnach können beispielsweise die bei Grußritualen verwendeten symbolischen Markierungen des 'anderen Geschlechts' einer rechtlich sanktionierten Homogenisierung widerstehen. Man legt bei der Begrüßung des anderen Geschlechts eine umständlichere Gestik an den Tag, als man dies bei gleichgeschlechtlichen Interaktionspartnern tun würde.

Bei der Realisierung eines solchen Forschungsvorhabens muss eine beträchtliche Zahl interdisziplinärer Problemstellungen beachtet werden. Zu den Quellen der Untersuchung gehören, historische Reiseberichte von Ausländern, Protokolle von Botschaftsempfängen, stilisierte literarische Beschreibungen, insbesondere jedoch Foto- und Kinochroniken des 20. Jh., die im Archiv für Foto- und Kinodokumente (Archivkino i fotodokumentov, Recnaja 1, 143400 Krasnogorsk, Russland) und im Gosfilmofondarchiv (Domodedovskaja, 142050 Belye Stolby, Russland) erarbeitet werden sollen.

Institutionen
  • Fach Soziologie
Mittelgeber
Name Finanzierungstyp Kategorie Kennziffer
Deutsche Forschungsgemeinschaft Drittmittel Forschungsförderprogramm 512/00
Weitere Informationen
Laufzeit: 01.10.2000 – 31.12.2005