Gesellschaft, Gesellschaftswissenschaft, Zivilirecht

Beschreibung

Das v.a. (post-)strukturalistisch geprägte kultur- und sozialwissenschaftliche Bild vom Recht ist bestimmt durch die Annahme, dass es sich um ein genuin modernes Instrument handele, das einer Einheitsvorstellung unterliege und als solches ein abgeschlossenes System der totalen Rationalisierung sei. Als solches dient es dann zumeist als Negativfolie der eigenen Arbeit – sei es im Rahmen der Diskussionen über Disziplinargesellschaft und Sicherheitsdispositiv, sei es in denjenigen über Ausnahmezustand und Gründungsparadox. Hierbei erfolgt jedoch zumeist eine Beschränkung des Rechtsverständnisses auf das Bild des Strafrechts bzw. des öffentlichen Rechts.

Das Forschungsprojekt „Gesellschaft, Gesellschaftswissenschaft, Zivilrecht“ will diesen eingeengten kulturwissenschaftlichen Fokus erweitern. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass diese Gleichsetzung von Recht mit Strafrecht oder dem Ausnahmezustand des öffentlichen Rechts den Blick auf das Recht verstellt und so zu fundamentalen Vorurteilen über Recht, rechtliche Techniken und Wissensregime sowie rechtliche Praktiken führt. Im Duktus Foucaults formuliert: Das Recht unterfällt in dieser Perspektive selbst der Repressionshypothese, und sein produktiver Charakter als soziale und kulturelle – aber sicherlich auch kritische – Machtpraxis weit über den Bereich des Strafrechts hinaus gerät aus dem Blick. Aus diesem Grund wird der Zusammenhang von „Gesellschaft“, „Wissen“ und der eher vergessenen Form des „Zivil(prozess)rechts“ aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive untersucht. Denn die zivilrechtlichen Formen der Tatsachen-, Wahrheits- und Wissensgenerierung spielen – so die These – sowohl in der entstehenden Soziologie als auch in der derzeitigen Debatte um die Globalisierung eine bedeutende Rolle, die erst durch die Perspektivverschiebung analytisch zugänglich wird.

Auf der historischen Ebene soll zunächst untersucht werden, welche Rolle das Zivilrecht und das zivilrechtliche Verfahren als Wissensregime in der Entwicklung des Gesellschaftsbegriff bzw. der Gesellschaftswissenschaft spielte, finden sich doch in den Arbeiten der frühen Soziologen starke Verbindungen zum privatrechtlichen Vertragsmodell sowie zum Zivilrecht (vgl. etwa Marx, Weber, Tönnies, Durkheim): Inwiefern ermöglicht diese Logik die Absetzung der Gesellschaft vom Staat in den „freien Vertragsbeziehungen“, inwiefern ermöglicht das Thema des Vertrages, „der Variabilität ohne Präzisionsverlust und Verkehr zwischen relativ Unbekannten ermöglicht“ (Luhmann), die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Verbundenheit zwischen relativ Unbekannten, die jeweils kontingent ist? Welche Rolle spielten die großen Vereinheitlichungsbestrebungen der verschiedenen Gesetze und die Diskussionen darum im 19.Jahrhundert in der Vorstellung einer Gesellschaft?

Und auf methodischer Ebene: Gibt es sowas wie ein zivilrechtliches Wissensregime, eine zivilrechtliche „juridische Form der Wahrheit“ (Foucault)? Welche Tatsachen wurden von den jeweiligen Autoren dementsprechend quasi als axiomatische Bedingungen nicht bestritten, über welche Annahmen wurde gestritten, und wer trägt im Falle eines non-liquets die Beweislast, wie wird dieser Beweis erbracht?

Die gefundenen Ergebnisse sollen in einem zweiten Schritt mit dem dominanten repressiven Rechtsbegriff in den (post-)strukturalistischen Analysen kontrastiert werden. Das Augenmerk wird hierbei auf „eine analytische Durchdringung der undurchdringlichen „Moderne vom zeitgenössischen Standpunkt“ (Moebius/Reckwitz) und auf die Prozesse der Destabilisierung in Abwendung vom „rationalistischen Strukturalismus“ gelegt; dieser Poststrukturalismus sucht weniger nach Orten der Vernunft, sondern „nach Orten des Unkontrollierten und Unkontrollierbaren, damit nach Freiheitsräumen im Innern von sozialkulturellen modernen Strukturen“ (Reckwitz). Genau diese Orte betonen aber auch die sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Juristen und Juristinnen in ihrem Verständnis des Rechts, wenn sie immer wieder den fragmentarischen, willkürlichen, widersprüchlichen, paradoxalen, irrationalen Charakter des Rechts, ja die „seit jeher bestehende poststrukturalistische Struktur des Rechts“ (Kiesow; vgl. auch Teubner; Fögen; Ladeur) betonen.

Wenn aber solche Orte des Paradoxalen und in diesem Sinne Unkontrollierbaren gang und gäbe sind, stellt sich die Frage, welche Rolle sie für die Struktur des Rechts spielen. Die These des Forschungsprojekts ist hierbei, dass eine (post-)strukturalistische Analyse, die sich dem Recht mit diesen Momenten zuwendet und es nicht als Hort der Kontrolle und Kontrollierbarkeit in die Schublade einer kontrollfixierten „Moderne“ steckt, unter Umständen eine Korrektur eben dieses Bildes der Moderne über die genaue Untersuchung eines seiner Instrumente entwickeln kann. Denn das Recht wirft in dieser Perspektivierung die Frage auf, ob die „Undurchdringlichkeit der Moderne“ nicht auch Folge der Integration solcher Strukturmomente und nicht (nur) ihrer Ausmerzung ist. Würde sich diese Annahme bestätigen, so hätte dies aber zugleich Auswirkungen auf die Bestimmung der (post-)strukturalistischen Position im Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften. Das Recht – und im vorliegenden Falle das Zivilrecht – soll hierbei gewissermaßen Gegenstand wie Prüfstein (post-)strukturalistischer Ansätze sein.

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Laufzeit: 01.11.2009 – 31.10.2012