Gabe und Tausch. Handlungs- und Erzähllogiken im mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureroman
Abstract: Das Projekt untersucht an ausgewählten erzählenden Texten des Hoch- und Spätmittelalters das Verhältnis von 'ökonomischer' und 'anökonomischer' Logik, und zwar auf der Ebene der histoire wie auf der der narration. Textgrundlage bilden zwei Minne- und Aventiureromane: Konrad Flecks Flore und Blanscheflur (vor 1248) und Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland (um 1300).
Die Begriffe des ökonomischen und des anökonomischen Denkens meinen - sehr verkürzt gesagt - im Rückgriff auf Derridas Texte zur Gabe: einerseits die Ordnung von Rückkehr, Gerichtetsein, Verrechenbarkeit, Verschuldung und Wiedergutmachung, andererseits die totale Gabe, das nicht motivierte Ereignis, Verschwendung, Aufhebung von Kausalität, Asymmetrie etc. Diese Kategorien lassen sich indes nicht als Binarismen aufeinander hin ordnen, da das Ökonomische und das Anökonomische, die Tausch- und die Gabenlogik, nicht nur unvereinbar miteinander sind und sich wechselseitig aufheben, sondern sich zugleich nicht voneinander ablösen lassen und nur im Durchgang durch das jeweils Andere erreichbar sind.
Zur weiteren Profilierung des Ansatzes und zur Etablierung einer 'mittleren Beschreibungsebene' wird die Begriffsgewinnung ergänzt durch eine Relektüre zweier strukturalistischer Klassiker, die sich beide sehr gut auf den mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureroman applizieren lassen: Bachtins Konzept der Chronotopoi im Roman sowie Lotmans raumsemiotischer Ansatz. Nur auf den ersten Blick scheint Lotmans Modell der Sujetbildung als Grenzüberschreitung, die momenthaft strukturaufhebend, letztendlich aber strukturbestätigend gedacht ist, mit Bachtins Analyse der Chronotopoi des antiken Liebes- und Reiseromans kompatibel zu sein: Vielmehr zeigt sich, dass in Bachtins Beschreibung der Chonotopoi der 'biographischen Zeit' und der 'Abenteuerzeit', anders als bei Lotman, Implikationen der Diskontinuität, Ursachenlosigkeit, Asymmetrie und Isoliertheit dominieren (allerdings in pejorativer Wertung). Dies ist auch insofern von besonderem Interesse für die Textlektüre, als beide Modelle, obwohl einander ausschließend, auf das Erzählmuster der Gattung der Minne- und Aventiureromane anwendbar sind.
Von diesem ersten Hinweis auf die Unablösbarkeit beider Logiken, auf ihr Gegen- wie Ineinander in den Texten selbst nimmt deren Lektüre ihren Ausgang. Für den Flore hat sie zu dem Ergebnis geführt, dass der Entwurf höfischer Liebe hier mit seinen Kategorien der Rückgabe, Symmetrie, Substituierbarkeit durchaus einer ökonomischen Logik verpflichtet ist, etablierte Ordnungen also keineswegs transzendierend, sondern verdoppelnd. Figuren anökonomischen Denkens entstehen erst mit der breiten Thematisierung der diskursiven Verarbeitung der Liebeserfahrung im Medium von Literatur und Kunst, genauer mit der Darstellung des dynamischen Verhältnisses von Liebe und Liebesdiskurs. Grundsätzlich gilt dabei aber, dass das Nichtverrechenbare, Ursachenlose stets wieder in den Tauschzirkel eingepeist, d.h. ökonomisiert werden kann. Umgekehrt ist zugleich der Durchgang durch die ökonomische Logik eine Bedingung des Anökomischen. Dies zeigt sich insbesondere auf der Ebene des Erzählens. So hebt das narrative Ausweichen vor (an sich im Erzählmuster der Gattung angelegten) Grenzüberschreitungen im Lotmanschen Sinne die Symmetrie von Struktur und Ereignis gerade auf. Ferner wird sowohl die Betonung des Gerichtetseins, der Zielorientiertheit und der Kontinuität der Handlung als auch das Ursprungsdenken (die Kinderliebesgeschichte ist zugleich Ursprungserzählung der karolingischen Dynastie) durch die diskontinuierliche Inszenierung des Beginnens konterkariert.
Anders stellt sich das Verhältnis von Tausch und Gabe, Ökonomie undAnökonomie im Apollonius dar. Auf der Ebene der histoire sind die Bachtinschen Kategorien der Diskontinuität, des Risses und der Isoliertheit der Einzelereignisse uneingeschränkt auf den Text applizierbar. Im Gegensatz dazu entsteht hier jedoch ein Erzählen, das diese Momente des Anökonomischen wieder zurückführt in die durch Symmetrie, Linearität und Kausalität geprägte Ordnung.
Exemplarisch kann somit an beiden Texten die Nichtablösbarkeit der sich ausschließenden Logiken, ihre wechselseitige Bedingtheit, aufgezeigt werden.
- Egidi, Margreth - Projektleiterin
- FB Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften
Name | Kennziffer | Beschreibung | Laufzeit |
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Deutsche Forschungsgemeinschaft |
Laufzeit: | 01.10.2002 – 31.07.2005 |