Liturgie und Offenbarung. Konfigurierte Temporalität in der spätmittelalterlichen Offenbarungsliteratur
Der Einsatz des Konzepts der liturgischen Zeit als konfigurierte Temporalität in der Offenbarungsliteratur der Frauenklöster zwischen dem ausgehenden 13. und dem Beginn des 15. Jahrhunderts ist evident. Seine Funktionen allerdings sind vielgestaltiger als die bloße Markierung von Zeitpunkten in einem Lebenslauf, wenn die (Auto-)Biographie der Ordensschwester nicht als historiographischer Erlebnisbericht gelesen, sondern als fiktionaler Entwurf einer „im Leben“ veranschaulichten religiösen Lehre verstanden wird.
Das Projekt nimmt die liturgische Zeit als dominanten Bestandteil des Zeitgefüges der Offenbarungsliteratur als narrative Aneignung einer pränarrativen Zeiterfahrung an. Zu begreifen ist dieses Zeitkonzept folglich nur über den „Sitz im Leben“ der Offenbarungstexte, der abgeschlossenen Welt des Klosters und seiner durch eine Verdichtung liturgischer Handlungen geprägte Zeitordnung. Ebenso wie der lebensweltliche Klosteralltag wird auch das dargestellte Leben der Schwester durch den kirchlichen Festkalender und das Stundengebet strukturiert und der Text auf diese Weise rhythmisiert. Zugleich sind die Offenbarungen allerdings auch Zeugnis eines produktiven, da reflektierenden und interpretierenden Umgangs mit dieser Zeiterfahrung.
Untersuchungsgegenstand sind in erster Linie lateinische sowie volkssprachige Offenbarungstexte, die aus den beiden Zentren literarischer Produktion im deutschsprachigen Raum, den Klöstern Helfta und Engelthal, stammen. Charakteristikum dieser Texte ist die Verschachtelung verschiedener Erzählstränge – des biographischen Erzählrahmens und diesem eingefügten Gnadenerfahrungen der Schwester-, deren verbindendes Element die liturgischen Zeitangaben im Text darstellen. Auf der einen Seite scheinen sie den Dialog mit Gott oder Heiligen, d.h. allgemein ein Gnadenerlebnis zu initiieren. Darüber hinaus aber bestimmen sie vielfach auch dessen inhaltliche Ausgestaltung, so dass das Gnadenerlebnis zur Performanz des in der Zeitangabe angelegten Symbolgehalts wird. Aus der Zeitangabe, die als Repräsentant einer liturgischen Handlung und den damit verbundenen Inhalten gesehen werden muss, entfaltet sich folglich eine, die spezielle Zeit implizit erklärende oder deutende bzw. sie nachempfindende Gnadenerfahrung, die ein Glaubensverständnis spiegelt und durch das künstlerische Verarbeiten der Zeiterfahrung diese selbst reflektiert und interpretiert.
Das Projekt möchte sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene den Einsatz und die Darstellung liturgischer Zeit innerhalb der Offenbarungsliteratur untersuchen. Sein Ziel ist es, eine umfassende Analyse des konfigurierten Zeitgefüges und seiner Funktionen für den Text zu erstellen. Darüber hinaus provoziert diese Untersuchung Fragen nach der pränarrativen Zeiterfahrung sowie den spezifischen Entstehungsbedingungen und Gebrauchsbindungen der Texte.
- Exzellenzcluster
Period: | 01.08.2009 – 31.07.2011 |